Alle sozial engagierten Gruppierungen – auch die Vinzenzgemeinschaften – entwickeln im Laufe der Zeit einen besonderen Bezug zu Hilfsbedürftigen. Dadurch entstehen Schwerpunkte, wodurch ganz bestimmte Gruppen stärker betreut werden als andere. Damit ist auch eine Spezialisierung verbunden, weil Betreuer durch den regelmäßigen Umgang mit besonderen Gruppen bzw. Menschen Erkenntnisse sammeln, wie sie den Hilfesuchenden am besten beistehen können. Dies führt zwangsläufig dazu, dass sie den Blick auf jene Menschen richten, denen sie immer wieder begegnen. Es entstehen Hilfsmodelle, die in der Begegnung mit Betroffenen erfolgreich angewendet werden.
Von: Pfarrer Wolfgang Pucher C.M. Geistlicher Beirat der VG Österreich
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Armendienst 36/3 im August 2021
Wir alle wissen, dass Armut ein sehr vielschichtiges Gesicht hat. „Die“ Armen gibt es nicht. Jeder Einzelne, der Hilfe braucht und Hilfe sucht, hat einen anderen Lebenshintergrund und auch andere Bedürfnisse.
Sich darauf einzulassen, ist für unsere Vinzenzgemeinschaft äußerst wichtig. Darum ist der bereits von Frédéric Ozanam geforderte Hausbesuch so wesentlich. Erst, wenn man am Bett eines Armen gesessen hat, mit ihm gefroren und geweint hat, erkennt man seine Not. Und erst dann wird man spürbar helfen können.
Da sich die Lebensumstände fortwährend ändern und weil es in unserer Gesellschaft einen unübersehbaren Wandel gibt, ist es leicht möglich, dass manche „neuen Armen“ in ihrer Not gar nicht erkannt und deshalb übersehen werden. Immer öfter treffe ich auf Menschen, denen es furchtbar schlecht geht – und das, obwohl ihre Lebensbedingungen völlig anders sind, als die der mir bisher bekannten Hilfesuchenden. Konkret meine ich damit jene immer größer werdende Zahl an Immigranten, deren Versuch, hier sesshaft zu werden, an den Behörden scheitert. Noch schlimmer, die einen schlussendlichen Ausweisungsbescheid erhalten. Sie sind aber nicht bereit, das Land zu verlassen, weil sie aus einer für sie unerträglichen Lebenssituation geflüchtet sind. Sie bleiben einfach hier und tauchen unter. Sie sind rechtlos, weshalb sie nur schwer auf Verständnis für ihre Not stoßen und folglich nicht so leicht Hilfe erfahren. Sie leben als menschliche U-Boote, sind illegal in Österreich und weil sie eigentlich das Land verlassen müssten, haben sie auch keine Möglichkeit, bei uns menschenwürdig zu leben. Die genaue Zahl der Betroffenen ist unbekannt, aber man schätzt, dass dies in Österreich zwischen 70.000 und 100.000 Menschen, darunter auch Kinder, sind – die vergessenen Armen.
„Nein, illegal bin ich nicht“, sagt Andrzej Nosek (Name geändert), „ich darf nur nicht einreisen.” Der gebürtige Pole lebt in Österreich, obwohl er es nicht dürfte. Zwar ist er als Pole EU-Bürger, doch besteht gegen ihn ein zehnjähriges Einreiseverbot – über das er sich hinweggesetzt hat. Nachdem er nach Tschechien ausgewiesen worden war, kam er mit dem nächsten Zug einfach wieder zurück. Jetzt lebt er wie ein abgewiesener Bettler mitten unter uns.
Es ist uns nicht möglich, bei jedem Betroffenen zu klären, warum es ihm schlecht geht, warum er die Miete nicht bezahlen kann, kein Geld für die Betriebskosten hat und vor allem kein menschenwürdiges Leben führen kann. Mein Anliegen ist es, diesen Menschen mehr Aufmerksamkeit zu schenken und sich nicht zu scheuen, eine Hilfestellung zu leisten – auch, wenn man sich nicht sicher ist, ob diese wirklich notwendig ist. Es geht immer um den einzelnen Menschen. Wer zu uns kommt und um Hilfe bittet, hat einen vinzentinischen Anspruch, gehört zu werden und wenn möglich, Unterstützung zu bekommen. Dass dies gerade im Fall der bei uns illegal anwesenden Menschen besonders schwierig ist, wissen wir. Trotzdem dürfen wir sie – die vergessenen Armen – nicht grundsätzlich aus unserer Hilfsbereitschaft ausschließen.