Den Menschen sehen – Geschichten aus der VinziRast

Zuerst erschienen im „Armendienst in Österreich“, Jahrgang 38/3, im August 2023

Wie erzählt man die Geschichte eines Menschen, der alles verloren hat? In welcher Sprache, mit welchen Bildern? Wie können wir sie sichtbar machen, die Erfahrungen, die Menschen machen, wenn sie an den Rand der Gesellschaft geraten?

Die Kampagne „VinziRast hilft auf“ auf einen Blick (c) Heimat Wien

Mit der Kampagne VinziRast hilft auf setzt die Agentur Heimat Wien auf eine ganz spezifische Sprache, um zu vermitteln, was Obdachlosigkeit bedeuten kann: die Sprache der Kunst. Fünf lebensgroße Figuren, gefertigt von der Künstlerin Nina Herzog, ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich und sie stehen für jene Menschen, die wir im Vorübergehen, im Fluss unseres Alltags, kaum bemerken. Es sind Symbole, stolz und zerbrechlich zugleich, geformt aus Karton, dem gleichen Material, aus dem obdachlose Menschen sich oft notdürftig vor Kälte und Nässe schützen.

Hinter jeder der Figuren steht die Geschichte eines Menschen, der auf der Straße lebte und in der VinziRast wieder ein Zuhause fand. Auszüge dieser Geschichten können Sie auf unserer Website nachhören, gesprochen von fünf Schauspielerinnen und Schauspielern. So erhalten wir Einblick in Lebenswege, geprägt von Verlust und Ausgrenzung, aber auch Hoffnung und dem Moment des Wiederankommens in einer Gemeinschaft.

Renate Hornstein, Öffentlichkeitsarbeit VinziRast

Wir danken der Agentur Heimat und all jenen, die die Kampagne pro bono mitgestaltet haben:
Idee, Konzept: Heimat Wien, Fotograf: Yannik Steer, Postproduction: Blaupapier, Tonstudio: Blautöne, Media Agentur: Havas Media Austria

Immer wieder aufstehen

M. versteckt ihre Hände in den überlangen Ärmeln ihres schwarzen Pullis, während sie erzählt. Mit starker Stimme. In ihr Gesicht steht die Erfahrung ihres Lebens geschrieben. Der Rausschmiss aus dem Elternhaus. Der Vater, der trinkt. Die ersten beruflichen Versuche. Sich hocharbeiten. Tiefschläge. Immer wieder aufstehen. Die Krebserkrankung. Der Partner, für den sie ihre Wohnung aufgibt. Nur um zu erfahren, dass er bereits eine andere hat. Sicher denkst‘ nach. Was willst’n vom Leben noch? Wennst mit 56 scho das Gfühl‘ hast, du hast fast alles hinter dir. Von heut auf morgen dastehn ohne alles. Und dann ins Wohnheim Wurlitzergasse und letztlich in die VinziRast. Wenn mich niemand raushaut, sagt sie lächelnd, bleib ich noch. Ich bin froh, dass ich hab‘ was ich brauch und nicht an die Zukunft denken muss. Weil, dass man sich wieder sicher fühlt, da muss man sich auch erst wieder dran g‘wöhnen. 11 Mal in ihrem Leben ist M. umgezogen. Irgendwann, sagt sie, möchte sie vielleicht ein letztes Mal umziehen, in eine eigene Wohnung.

 

(c) Renate Hornstein

Alt und schön

B. ist eine stolze Frau. Geboren in Österreich. Mit russisch-ukrainischen Wurzeln. Sie spricht getragene, lange Sätze. Eine Künstlerin. Mit einer Lebensgeschichte voller Träume und großer Brüche. Reisen. Ausstellungen. Die Geburten ihrer Kinder. Eine davon überlebt sie nur knapp. Ich war eigentlich schon tot. Ich habe diese schwarze Welt gesehen. Als ich wieder wach war, nach der Operation, haben sie gesagt, dass mein Herz stark ist. B. kennt das Leben im Kreise von Künstler*innen, aber auch Einsamkeit. Isolation von ihrer Familie. Die Alkoholsucht ihres Mannes. Was heute bleibt? Wenn du 75 bist, wie fühlst du dich? Ich brauche mir kein schönes Kleid mehr anzuziehen, wo soll ich denn hingehen? Es wird schade für mich sein, wenn ich in die schwarze Welt gehe. Nicht mehr den Himmel zu sehen.

Gibt es etwas, was sie heute noch glücklich macht? Ich bin gerne in der VinziRast. Die Leute sind alle lieb zu mir. Es freut mich, unter Menschen zu sein. Junge Leute ziehen mich an, mit ihnen möchte ich zusammen sein. Das ist gut für mich.

Die Zeit zurückdrehen

L., 64 Jahre alt, sitzt auf seinem Bett, in seinem Zimmer, in der VinziRast. Die Fenster sind verdunkelt. L. ist schwer krank, das Sprechen fällt ihm schwer. Aber man hängt ihm an den Lippen. Er hat Charisma. Manchmal grinst er wie ein Junge, der ein Geheimnis hat. Er erzählt vom Aufwachsen am Land. Dem Anders sein und seinem verschlungenen Weg. Von der Zeit im Gefängnis. Den Reisen. Ich bin ein schwieriger Mensch, weil man mich nicht versteht. Weil die Menschen nicht so denken wie ich. Und vielleicht hab auch ich die anderen nicht verstanden. Unbegreiflich, dass man in wenigen Jahren so viele Menschen verlieren kann. Die Frau, die er liebt, die Eltern, die Brüder. Ich hab’ es nicht so weit kommen lassen, dass Leere entsteht. Alkohol und Drogen lassen ihn auf der Straße landen. Wie er es rausgeschafft hat? Ich hab’ wollen, sagt L.

Seinen Bezugspersonen hier vertraut er. Allen voran Christine. Wir streiten auch. Ich kann sehr beleidigend sein. Ob es ihm danach leidtut? Nicht gleich, aber später! Aber irgendwie vertrau ich ihr mehr als allen anderen. Denkt L. über das Sterben nach? Scheiße find ich’s, weil man nichts wiederholen kann. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. An welchen Punkt würde L. gerne die Zeit zurückdrehen? Zu meiner Geburt.

Hier können die einzelnen Figuren und „ihre“ Geschichten gesehen und gehört werden.

Besuchen Sie auch die Website der Folgekampagen zum 20jährigen Jubiläum der VinziRast.