Ein neues Leben aufbauen

Dieser Artikel erschien zuerst im Armendienst 37/3, Oktober 2022

Anzhelika Drapey führt als Psychologin ein erfülltes Leben nahe Kiew. Als im Februar 2022 die ersten Bomben fallen, entschließt sie, zu flüchten. Im Haus Rosalie kann sie etwas zur Ruhe kommen und ihre nächsten Schritte planen. Von: Svjetlana Wisiak

Das Haus von Anzhelikas Vater in der Ukraine war nach einem Angriff komplett zerstört. (c) Privat

Mit 36 steht Anzhelika Drapey mit beiden Beinen fest im Leben, hat ihren Master in Psychologie abgeschlossen und arbeitet in einem psychiatrischen Zentrum, das Menschen in Krisensituationen behandelt. In Irpin, nahe ihres Heimatorts Hostomel, nordöstlich von Kiew gelegen, betreibt sie auch seit einigen Jahren ein Café, das sich großer Beliebtheit erfreut. „Ich habe viele Interessen und dementsprechend breit gestreut ist auch mein Freundeskreis. Dazu gehören Künstler*innen, Regisseur*innen, auch ein Designer. Ich hatte mir ein Leben aufgebaut und war an dem Punkt angelangt, es in vollen Zügen genießen zu können“, erzählt Anzhelika.

Auf dem Heimweg von einer Filmpremiere am 23. Februar trifft sie auf einen Militärkonvoi. Sie wird stutzig, ein Freund mahnt sie jedoch, niemandem davon zu erzählen. Am nächsten Tag ist plötzlich alles anders: Ein riesiger Rauchschwall ist am Horizont zu sehen, der Flughafen von Hostomel ist in Schutt und Asche gelegt. Der Krieg hat plötzlich ihre Heimat heimgesucht und sie muss, gemeinsam mit ihrem einen Monat alten Bruder, ihrem Vater, dessen Frau und einer Freundin Zuflucht im Keller ihres Vaters suchen, denn ihr eigenes Haus nebenan bietet nicht genügend Schutz. Nur wenige Tage darauf trifft Anzhelika die Entscheidung, aufzubrechen. Ihr erstes Ziel lautet Rumänien, wo sie Freunde hat. Zurücklassen muss sie ihre Katze Lola, sie war nach den ersten Explosionen weggelaufen.

Ein anstrengender Weg liegt vor ihr – die Autokolonnen sind nicht enden wollend, auf den Tankstellen gibt es kein Benzin, geschweige denn Essen für die Wegzehrung. Büsche neben der Straße werden zur Toilette, die Wasserflasche zum Waschbecken. Nach Tagen kommt sie in Rumänien an, doch sicher fühlt sie sich nicht: „Ich hatte Angst, dass sich der Krieg über die Grenzen der Ukraine ausweiten würde. Ich habe nach Sicherheit gesucht und wollte deshalb unbedingt in ein Land flüchten, das nicht der NATO angehört“, erläutert die Psychologin ihren Gedankenprozess. So kommt sie schließlich in Wien an. Weil ihre dort Jahren ansässigen Freunde jedoch weitere Gäste erwarten, kann sie nicht bleiben. So bricht sie nach Graz auf, wo sie weitere Bekannte hat. Über Telegram und andere Portale versucht sie, sich ein Überblick darüber zu verschaffen, was jetzt zu tun ist: Welche Dokumente braucht sie, wie kommt sie zu einer Unterkunft, wo erhält sie eine Aufenthaltserlaubnis? „Das war das Schwierigste am Anfang, die Informationsflut war riesig und dennoch hat man unterschiedliche Auskünfte erhalten“, sagt sie. Über eine Plattform findet sie einen Platz bei einer österreichischen Familie in Graz. Doch ihre Gedanken wandern immer wieder zu ihrer Katze Lola zurück: „Ich habe gewusst, dass sie zum Haus zurückkommen würde. Doch in der Zwischenzeit war auch meine Tante geflohen, die sich um sie gekümmert hat. Ich habe sie einfach nicht sich selbst überlassen können.“

Für ihre Katze Lola ist Anzhelika in die bekriegte Ukraine zurückgereist. Heute leben beide im Haus Rosalie. (c) VinziWerke

So steigt Anzhelika in den Zug, um ihre Katze aus dem umkämpften Gebiet zu retten. „Ich hatte furchtbare Angst. Einmal blieb der Zug wegen eines Bombenalarms stehen und wir alle mussten uns flach auf den Boden legen – zwei Stunden lang“, schildert sie die Erfahrung unterwegs. Vom Haus ihres Vaters, das erst vor fünf Jahren fertiggestellt wurde, sind nur noch verkohlte Wände übrig. Nach Hostomel darf sie gar nicht einreisen, es gehört zur militärischen Sperrzone. Ihre Lola will die junge Frau dennoch nicht aufgeben: „Ich kannte einen Soldaten, er hat Lola gefunden und zu mir gebracht.“ Gemeinsam mit ihrem 2-jährigen, verspielten Kätzchen macht sie sich auf den Rückweg. Wie Anzhelika im April zum Haus Rosalie gekommen ist und ihre ersten Erfahrungen dort schildert sie uns selbst:

„Da bei der Caritas für mich keine Wohnung gefunden wurde, konnte ich im Haus Rosalie ein schönes Zimmer bekommen. Das Haus Rosalie ist eine Einrichtung, in der man auch mit Haustieren leben darf. Das war für mich sehr wichtig, weil ich meine Katze aus der Ukraine mitgebracht habe.

Bei meiner Ankunft im Haus wurde ich von der Leiterin und den Bewohnerinnen* herzlich aufgenommen. Ich habe ein schönes Zimmer bekommen und die Leiterin hat mir sehr geholfen, meine Leben im Haus zu organisieren. Aber das wichtigste für mich in dieser Anfangszeit war, dass ich viele Ratschläge und Tipps von der Chefin des Hauses bekommen habe.

Hier leben Frauen*, die sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden, Opfer häuslicher Gewalt geworden oder in materielle Not geraten sind. Ihnen fehlt es daher oft an Lebensstruktur und Orientierung. Im Leben dieser Frauen gibt es meist keine Regeln, deshalb lernen sie, wenn sie ins Haus Rosalie kommen, ihren Alltag zu strukturieren und sich an Regeln zu halten. Es ermutigt sie auch, sich um andere zu kümmern, da sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere verantwortlich sind. Zum Beispiel, wenn sie einen Reinigungsdienst ausüben. Sie tun das nicht nur für ihren eigenen Nutzen, sondern sorgen auch für das Wohlbefinden der anderen Bewohnerinnen*.

Es ist nicht nur ein Haus, in dem sie eine vorübergehende Zuflucht finden, sondern vor allem ein Ort, an dem sie vielfältige Unterstützung erhalten: rechtlich, psychisch, moralisch, und emotional. Sie können hier ein neues Leben beginnen und finden auch Geborgenheit.

Da sehr unterschiedliche Menschen im Haus leben, müssen die Bewohnerinnen* lernen, die Meinung anderer zu respektieren, deren Bedürfnisse zu berücksichtigen, den Charakter einer anderen Person zu akzeptieren, ihre eigenen Gefühle zu kontrollieren und all dies mit Respekt zu tun.

Ich finde die Erfahrung des Zusammenlebens interessant, weil Frauen* motiviert werden, auch selbst ihr* Leben zu ändern, wenn sie* beobachten, dass es anderen auch gelingt. Wenn es andere schaffen, sich weiterzuentwickeln, gibt das auch einem selbst ein starkes Signal, weiterzumachen.

Wie sehen Anzhelikas nächste Schritte aus? „Ich fühle mich schon einsam in Österreich. Manchmal habe ich den Impuls, einfach zurück nach Hause zu fahren, egal, was ich dort vorfinde. Doch realistisch ist das nicht. Auch in den nächsten Jahren, selbst wenn der Krieg vorbei ist. Mein Zuhause ist zerstört. Deshalb möchte ich jetzt meine Deutschkurse beenden und im besten Fall als Psychologin arbeiten. In Graz leben viele Menschen, die auch aus anderen Ländern geflüchtet sind. Mit der Erfahrung, die ich jetzt gemacht habe, könnte ich ihnen helfen. Im besten Fall erhalte ich noch meinen Doktortitel, immerhin ist meine Dissertation bereits fertig. Ich möchte mir hier ein neues Leben aufbauen.“