Wollen Sie mich erfrieren lassen?

Am 9. Dezember 2021 saß eine 50-jährige Frau am Korridor vor meiner Kanzlei. Als ich ihr zum ersten Mal begegnete, sagte sie zu mir: „Herr Pfarrer, wollen Sie mich erfrieren lassen?“

Von: Pfarrer Wolfgang Pucher C.M. Geistlicher Beirat der VG Österreich

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Armendienst 37/3 im August 2022

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Die Vorgeschichte ist die, dass sie bereits aus drei Wohnungen delogiert und aus allen Einrichtungen für obdachlose Frauen des Hauses verwiesen worden war. Ich fragte in den betreffenden Einrichtungen nach. Überall erhielt ich dieselbe Auskunft: Diese Frau ist unbetreubar, weil sie sich prinzipiell an keine Regeln und Vorgaben hält. Auf meine Rückfrage, welchen Rat man mir gäbe, wenn ich sie in meinem Pfarrhaus unterbringen sollte, kam stets die Antwort: „Die werden Sie nie wieder los.“ Man fügte gleichzeitig bei, dass man auch mir nicht zutrauen könne, mit ihr unter einem Dach zu leben. Jedes Mal, wenn ich an ihr vorbeikam, wiederholte sie den vorwurfsvollen Satz: „Wollen Sie mich erfrieren lassen?“ Ich bin weder ausgebildeter Sozialarbeiter, noch medizinisch geschult, aber ich habe es nicht geschafft, sie wieder auf die Straße zu schicken.

Da wir eine Einrichtung für psychisch belastete Frauen haben, das VinziLife, nahm ich sie unter der Bedingung auf, dass sie dorthin übersiedeln müsse, sobald ein Zimmer frei würde. Schon bald nach ihrem Einzug ins Pfarrhaus erkannte ich, wie schwierig der Umgang mit ihr ist. Als Beispiel sei erwähnt, das sie die vorhandene Waschmaschine einen ganzen Tag lang ohne Wäsche laufen ließ. Das ganze Haus hat gedröhnt. Als ich zu ihr ins Zimmer wollte, hat sie mir den Zutritt verweigert. Erst unter Zuhilfenahme der Polizei konnte ich die Maschine entfernen. Ich habe sie täglich zum Mittagessen in meiner Hausgemeinschaft eingeladen. Dabei gab es nur geringfügige Auffälligkeiten. Als dann die Übersiedlung in das Haus VinziLife fällig wurde, hatte ich tatsächlich Angst, dass sie sich weigern würde. Ich musste einige Personen vorsichtshalber in meinem Büro warten lassen, um mich im Extremfall schützen zu können. Ich bin froh, dass sie dann doch mit mir in das VinziLife übersiedelte. Die weiteren Schwierigkeiten, die sie anderen – und damit auch sich selber – seither bereitet, möchte ich nicht schildern.

Meine nicht enden wollende Frage ist: „Was macht eine Gesellschaft mit so extrem schwierigen Menschen? Was wäre mit ihr geschehen, wenn ich sie nicht aufgenommen hätte?“ Ich habe diese Frage auch unserer Bürgermeisterin gestellt. Auch sie wusste keine Antwort. Sie meinte, eine zwangsweise Einlieferung in eine psychiatrische Anstalt könne wiederum nur für kurze Zeit durchgeführt werden. Ich bin entsetzt und empört, dass in solchen Einzelfällen die fachlich ausgebildeten Personen und die zuständigen Politiker solche Menschen fallen lassen. Sie darf – ja, sie darf – erfrieren. Auch bei besonders schwierigen Menschen muss unsere Gesellschaft einen Weg finden, ihnen ein Minimum an Freiheit und an Menschenwürde zu gewährleisten.