In Zeiten von Corona-Krise und Ukraine-Krieg begegnet uns Not in vielen verschiedenen Facetten. Wir sind gefordert, sie zu lindern und laden alle ein, sich in Solidarität zu üben.
Von: Svjetlana Wisiak
Dieser Artikel erschien zuerst im August 2022 im „Armendienst in Österreich„, Ausgabe 37/3

Eine junge Dame ruft im VinziHaus an. Sie brauche Hilfe, sagt sie, ihre Pfarre habe sie an uns verwiesen. Sie schildert kurz ihre Geschichte: Vor zwei Monaten ist sie, alleinerziehende Mutter, gemeinsam mit ihrem Sohn nach Graz gezogen. Er leidet unter der Konzentrationsstörung ADHS und bedarf daher besonderer Aufmerksamkeit. Mitten in der Zeit von Corona, Ukrainekrieg und Teuerungen mussten sie umziehen – in eine teure Wohnung in der Stadt. Weil das Schuljahr aber weit fortgeschritten ist, erhält ihr Sohn in den umliegenden Schulen keinen Platz mehr. Dass in der Waldorfschule noch freie Stellen verfügbar sind, freut sie angesichts der Bedürfnisse ihres Kindes umso mehr. Allerdings: Die Schule kostet 250 Euro pro Semester. Damit die Mutter arbeiten kann, muss auch ein Platz im Hort gefunden werden. Wieder 225 Euro. Weil sie ihre Zeit in die Erziehung des Kindes investiert hat, kann sie nicht genügend Dienstzeiten aufweisen, um angemessenes Arbeitslosengeld zu erhalten. Eine Familie, die ihr aushelfen könnte, ist auch nicht vorhanden. Umziehen ist teuer – eine Kaution ist fällig, die erste Miete usw.
Uns bittet sie um Hilfe bei der Finanzierung des Schulgeldes. Bei ihrer Pfarrcaritas war sie bereits, viel Unterstützung war nicht möglich. Die Existenzsicherungs-Stelle hat ihr mit der Kaution ausgeholfen. Beim Sozialamt hieß es, sie würde noch nicht lange genug in Graz wohnen, um von öffentlicher Hand Unterstützung zu erhalten – also keine Sozialhilfe, kein Wohnkostenzuschuss, keine SozialCard, mit der sie zumindest die Jahreskarte für den öffentlichen Verkehr vergünstigt erhalten würde. Wie soll sie denn auf Arbeitssuche gehen, wenn sie sich die öffentlichen Verkehrsmittel nicht leisten kann? Die soziale Schlinge zieht sich zu und langsam macht sich Verzweiflung breit. Also laden wir sie zu uns ein, sehen uns ihre Situation genau an, suchen noch nach Schlupflöchern und helfen aus, damit zumindest ein Stückchen der enormen Last von ihren Schultern genommen wird. Mit einem herzlichen Danke und einem Anflug von Lächeln im Gesicht verlässt sie unsere Anlaufstelle VinziTreff wieder.
Die Umstände des Umzugs dieser jungen Frau und den Hintergrund ihrer familiären Verhältnisse erläutert sie nicht, aber auch wir fragen nicht nach – denn Not begegnen wir so, wie wir sie vorfinden, wertfrei, bedingungslos. Die Anfragen im VinziTreff haben im ersten Halbjahr 2022 bereits die Zahl überschritten, die wir über das gesamte Jahr 2021 verzeichnet haben. Wir spüren, wie rapide sich die soziale Lage im Land zuspitzt. Im VinziMarkt erzählen Kund*innen von Stromnachzahlungen in astronomischen Höhen, von Mieten, die plötzlich und enorm angehoben werden, von Lebensmitteln zu derart hohen Preisen, dass nicht einmal eine sättigende Ernährung sichergestellt werden kann. Entlastungspakete, die von der Regierung geschnürt werden, sind zwar richtig und wichtig, angesichts der drohenden Armutswelle wirken sie aber lediglich wie ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Der VinziTreff wird auch von Menschen aufgesucht, die nicht ohne „Eigenschuld“ in ihre Situation geraten sind. Einige von ihnen kennen wir bereits seit Jahren. Weil sie den „Tatbestand“ der Eigenschuld erfüllen, werden sie von der Gesellschaft verurteilt. Ihre Not mindert dieser Umstand dennoch nicht. Kardinal Christoph Schönborn hat im diesjährigen Ethikimpuls der Elisabethinen Graz anlässlich des 5-Jahr-Jubiläums vom VinziDorf-Hospiz das Thema „Würde“ beleuchtet. Mehrmals riefen er und andere Referent*innen uns in Erinnerung, dass Würde im ersten Absatz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte tief verankert ist. Jeder Mensch hat das Recht auf Würde. Wer ist also „würdig“ der Hilfe in einer Notsituation? Wir sagen: Alle. So helfen wir der jungen Dame, die aufgrund unglücklicher Zufälle vorübergehend aus dem sozialen Sicherheitsnetz von Staat und Zivilgesellschaft gefallen ist. Aber auch jener Person, die mit eigenem Zutun ins Stolpern geraten ist.
Angesichts der schweren Zeiten, die uns bevorstehen, laden wir Sie, liebe Leser*innen ein, sich in Zusammenhalt und Solidarität zu üben. Denn Menschen mit Würde zu behandeln, gibt Würde zurück. Menschen Hilfe entgegenzustrecken, bestärkt das Wissen, auch selbst Hilfe zu erfahren, wenn sie notwendig wird. Nur Hand in Hand können wir diese Krise durchtauchen und gemeinsam gestärkt am anderen Ende herauskommen.