Armut geht unter die Haut

Armut hängt nicht von Nationalität, Religion oder Geschlecht ab. Und trotzdem: Die Armut ist viel zu oft weiblich*.
Von: Edina Görög-Nagy

Erstmals erschienen im Armendienst 01/2022

Ilona K. wohnt im VinziSchutz (c) VinziWerke

Ilona K. stammt aus Siebenbürgen, aus einem kleinen Dorf in Rumänien, mit ausschließlich ungarischer Bevölkerung, den Szeklern. Lauter ehrliche, anständige, ruhige Menschen, sagt sie. Lauter arme, arbeitslose Menschen, die versuchen, sich durchs Leben zu kämpfen; die auch bereit sind, einander zu helfen; weil sie eines verbindet: ein hartes Leben. Sie sind es seit jeher gewohnt, jede Tätigkeit anzunehmen, die ihnen angeboten wird: meistens harte Arbeit auf den Feldern als Tagelöhner*innen, für wenig Lohn. Trotzdem sind sie froh, wenn sich so etwas überhaupt ergibt – denn Maschinen und Industrie nehmen ihnen zunehmend die Arbeit weg.

Ilona hat sich nie beklagt, sie hat mit ihrem Mann und ihrer Tochter ein bescheidenes Leben geführt. Später hat sie auch zwei Söhne bekommen. Doch als die Buben 2 Jahre bzw. 8 Monate alt waren, starb der Familienvater plötzlich an Magenkrebs. Die verzweifelte junge Witwe musste hart kämpfen, um ihre Familie versorgen zu können. Aber ihre Kinder einer Pflegefamilie zu überlassen, kam für sie nicht in Frage. „Ich würde für sie sterben, sie sind mein Ein und Alles“, unterstreicht sie. In ihrem kleinen Haus gibt es zwar Strom, aber bis heute kein Bad: Wasser kann man nur aus dem Brunnen im Hof holen. Im Winter ist es klirrend kalt, wie auch der Gang zum Plumpsklo draußen. Im Wald sammelt sie Holz zum Heizen. Sie hat Gemüse angebaut, Tiere halten konnte sie aber nicht: „Wie hätte ich Tiere füttern sollen, wenn wir selbst kaum etwas zum Essen gehabt haben?“

Als die Kinder älter geworden sind – gleich nach Abschluss der Pflichtschule – mussten sie als Bauarbeiter nach Brassó (Kronstadt), um Geld zu verdienen. Sie waren fleißig, aber immer benachteiligt: als Angehörige der ungarischen Minderheit wurden sie entlassen, sobald rumänische Kollegen* sich beworben haben. Als die Grenzen geöffnet wurden, hat Ilona ihr Glück in Österreich versucht. Sie fand Unterschlupf bei Pfarrer Pucher im VinziHerz, später in unserer Frauen*-Notschlafstelle VinziSchutz. Seit Jahrzehnten geht sie hier betteln, sitzt bei Kälte und Hitze vom frühen Morgen bis spät am Nachmittag, manchmal für nur 5 Euro am Tag, auf der Straße. Dennoch meint sie: „Die Österreicher*innen sind ein nettes Volk, ohne sie würden wir verhungern.“ Der ältere Sohn arbeitet in Graz, er hat geheiratet und Ilona eine Enkelin geschenkt. Der andere Sohn blieb in Rumänien. So sehr er sich auch bemüht, er hat keine Chance, Arbeit zu finden und ist auf die Hilfe der Familie angewiesen.

Vor 4 Jahren hat das Schicksal nochmals zugeschlagen: Ilonas Tochter ist nach mehreren Fehlgeburten an Brustkrebs erkrankt, ihr Mann hat sie daraufhin verlassen. Die Mutter blieb bei ihr, Operation und Medikamente haben ihre ganzen Ersparnisse verschlungen, aber es gab keine Hilfe mehr. Sie hat sie bis zuletzt gepflegt und weint heute noch, wenn sie erzählt: „Ich wollte, man hätte mich lebendig begraben, wenn das nur meine Tochter ins Leben zurückgebracht hätte.“

Zur Trauer trägt sie auch heute noch Schwarz, während sie wieder in Graz bettelt. Die Begräbniskosten haben große Schulden hinterlassen. Rente bekommt sie überhaupt keine, für die Fahrt nach Graz muss sie sich Geld leihen – das Erste, wofür sie hier bettelt, sind diese „Ehrenschulden“. Sie ist vom vielen Kummer gezeichnet. Sie sagt, dass die Trauer auch ihr Denkvermögen ruiniert hätte, sie sei vergesslich, hätte ständig Angst, dass sie sich verirrt. Sie wirkt klein und gebrochen. Eines Tages sehe ich sie aber plötzlich überraschend voller Energie. Ich rufe sie, weil ihr älterer Sohn draußen auf sie wartet. Ob er auch ihre Enkelin mitgebracht hätte? Die alte Frau, deren Bewegungen sonst langsam und verzögert erscheinen, strahlt über das ganze Gesicht, als sie zum Ausgang von VinziNest eilt.